2006, im August ...


So fing das an, damals, als ich zurückkam in's Heimatdorf und dachte, es ist nur für drei Wochen. Original-Texte von damals, z.T. gekürzt und kommentiert.

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Dienstag, 01.08.06

Sie kruschert nahezu ununterbrochen. Gestern abend wollte sie mir etwas zeigen, wusste aber weder was, noch wo es sich befindet. Nachdem die Suche, begleitet von vielen „ích bin so blöd!“ und „das gibt’s doch nicht!“ abgebrochen wurde, fand sie es dann zufällig: Ein altes Besteckset, im Originalschuber, vermutlich nie benutzt. Es hat sie „immer gereut“, zu schade zum Benutzen. Zusammen haben wir das Besteck betrachtet und bewundert und dann strahlte sie schlagartig: „Siehst Du, manchmal hab ich doch noch was, worüber ich mich freuen kann!

°°°Wie froh bin ich, damals so viel geschrieben zu haben. Wie schlimm nun das Erkennen, wie stark sie die Fähigkeit des Sprechens verlernt hat. Eine der größten Schwierigkeiten°°°

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Der Arzt war da. Ich bin entsetzt und sauer. Was für ein Arschloch. Es ist der Oma durchaus zuzutrauen, dass sie übertreibt bei Schilderungen, es wäre möglich gewesen, dass der „Arzt“ so schlimm gar nicht ist. Aber er ist noch schlimmer. Ich will versuchen, sie bei meiner Doktorin anzumelden.

Ein Ruf durchs Treppenhaus. Andrea, komm doch mal, die Ding will dich sehen!

°°°Damals also wusste sie meinen Namen noch.°°°

Die Ding ist die G. und Nachbarin. Aus dem Schlafzimmerfenster der Oma raus unterhalte ich mich mit ihr. Kommst mal rüber, ich hab was gebacken, das könnt ihr versuchen, und da sind die Tomaten. Die Tomaten hat ihr Gatte heute morgen schon für mich geerntet, er wird bald 80 und steht auf mich. Ich bringe Tomaten und Gebäck zur Oma, und es bereitet mir diebische Freude, eins der fettigen, zuckrigen Dinger gleich zusammen mit ihr zu verspeisen. Kein Kuchen, hat der Arzt nämlich gesagt, kein Kuchen. Und keine Limo. Und kein Orangensaft. Was ist denn mit Lebensfreude?, hab ich ihn gefragt. Das hat nichts mit Lebensfreude zu tun, hat er abgetan, das ist nur Gewohnheit. Man sollte wissen, dass der BZ der Oma konstant in Ordnung ist. RR war heute 125/80. Ist das gut?, wollte sie wissen. Es geht so, hat er geantwortet.

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Später dann wieder Rad gefahren, ich werde noch direkt fit hier. Mit ihr zusammen dann den Kleiderschrank inspiziert. Sie hätte so gern neue schöne Sachen, alles ist ihr zu groß geworden.

Ich habe den Eindruck, es wird immer besser mit ihr, was das Reden betrifft. Wahrscheinlich das Training. Wer spricht sonst mit ihr.

Nach dem Abendessen (Käsebrot mit Tomaten) sitzen wir wieder zusammen, das pendelt sich ein, und trinken Tee. Unterhalten uns. Über Ärzte, über Früher, über die Toten. Wieviel Unverarbeitetes. Mit einemal frägt sie mich: „Maadla, soll ich Dir Dein Haar machen?“ Genau so, nicht ‚deine Hoor’. Und ich setze mich mit meinem Stuhl vor den ihren, doch die Haare sind zu lang, nein, es kommt nicht in Frage, dass ich aufstehe, sie steht auf und versucht, mit die Haare zu bürsten und zu flechten. Rührende, zärtliche Minuten. Oft habe ich als Kind zugesehen, wie sie ihrer alten Mutter die grauen, dünnen Haare gebürstet und zum Zopf geflochten hat. Geschickte, kräftige Hände. Kräftig sind sie noch, doch das Flechten klappt nicht. Nicht mal das Bürsten, aber das liegt an den Haaren. Wie können so brav aussehende Haare nur so störrisch sein! Viel Lachen. Ach Maadla, ist das schön, wenn man lachen kann!

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2006, im Juli ...


So fing das an, damals, als ich zurückkam in's Heimatdorf und dachte, es ist nur für drei Wochen. Original-Texte von damals, z.T. gekürzt und kommentiert.

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Sonntag, 30.7.06

Nach dem Aufsperren der Gartentüre (wann hab ich zum letzten Male diese Gartentür aufgesperrt? Ist es 15 Jahre her?) hörte ich als erstes das Wiehern eines Pferdes. Und betrachtete dies als gutes Zeichen.

Ich, die ich zeitlebens kein Nachtkästchen hatte, nun habe ich ein sehr besonderes, sehr großes „Nachtkästchen“, die alte, vor 30 Jahren von meinem Vater selbst gebaute Modelleisenbahn, lange schon stillgelegt; auf die große Wiese unten links lege ich meine Brille, bevor ich mich schlafen lege.

In dem Zimmer sind überall Photos von Toten, dazwischen Photos von mir.

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Wir sitzen zusammen, sie erzählt von den Geschwistern und Schwägerinnen, wie alt sie alle geworden sind und wie krank sie sind. Ein Bruder ist gestorben, ganz kurz nur hat er gelebt. Hans ist im Krieg gefallen. Stockend erzählt sie, findet oft die Worte nicht, es ist normal mittlerweile für sie. Und noch ein Bruder ist gestorben, erzählt sie, da werde ich hellhörig, die Geschichte kenne ich nicht. Wie war das? Ach, ich weiß nicht. Naja, ist lange her, nicht wahr? Ja, [[...]] Ich höre zu. Helfe manchmal vorsichtig beim Finden der Worte. Schließlich kenne ich die Geschichte.

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[[...]] Trauerkarten. Der größte der Stapel ist genau 20 Jahre alt. Der kleinste ca. 8, der Großvater. Die Karten des mittelgroßen Stapels sind 2 Jahre alt. Für den ersten und den dritten Stapel gibt es Kondolenzlisten. Ich habe sie mir angesehen. Viele bekannte, viele unbekannte Namen. Namen auf der Liste meines Bruders, oft in schwungvoller Schrift, die ich auf der Liste meines Vaters wieder finde, in diesmal krakeliger Schrift. Einige davon werden nichts mehr schreiben.

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Abends hintenrum zum Zigarettenholen. Viele sind unterwegs oder in den Gärten, viel Hallo und Guten Abend. Manche kommen mir bekannt vor, aber ich kenne sie nicht. Viele schauen mich erkennend an, wie es scheint. Habs Geld vergessen, also zurück und vorne durchs Dorf. Dort stehen R. und H. mit einigen andren. Hallo und Tschüß! Beim Weggehen stelle ich mir vor, wie R. zu den andren sagt, die arbeitet im [[...]] und wie die andren verständnisvoll nickend meinen, dass das einiges erklären würde.

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Früh aßen wir Butterbrot und Honig, Mittag TK-Pizza, abends Weißbrot und Zaziki.

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