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Bitterlich weinend sitzt sie am Bettrand. Murmelnd. "Warum muss man so werden, warum ... Herrgott, warum ..."

"Vielleicht eine letzte Prüfung" meine ich, auf den Knien die Scheiße vom Teppichboden waschend. Nachem ich bereits die Oma gewaschen, das Bett frisch bezogen und das Bad geputzt hatte. Was soll ich in dieser Situation früh um halb sechs nach nur knapp zwei Stunden Schlaf denn von Degeneration oder Hirnstörungen reden. Und denke mir, daß vielleicht nicht nur sie geprüft wird.

Nach dem Mittagessen dann: "Oma, wie geht es Dir denn jetzt?" - "A weng viel Schatten ..." sagt sie, und was immer sie damit zum Ausdruck bringen wollte, sie hätte das nicht besser tun können.

Schatten.

Ein totes Bandfinkweibchen. Ihre Freundin, die Rotschnäblige, nun allein mit dem Möwchen-Mann. Zwei übriggebliebene verwirrte Vögel. Das fünfte Rad am Wagen fehlt. Mein Lieblingsvogel, der kleine Falke, fehlt auch mir. Herzzerreissend schier das Beobachten der Übriggebliebenen.

Ich erinnere mich daran, dreimal ihren Tod geträumt zu haben. Einmal als Kind, da ertrank sie, einmal kürzlich, da wurde sie von einem LKW zerquetscht, einmal zwischendrin, da verwandelte sie sich in einen Vogel und flog davon.

Vor noch nicht einmal einer Woche war die Hochzeit, eine traumhafte, außergewöhnlich durch ihre Normalität, romantisch in ihrer Schlichtheit, perfekt durch das Fehlen auch nur eines unangenehmen oder peinlichen Moments. Die Oma war selig, fühlte sich sichtlich wohl in der kleinen Gemeinschaft. Auch die Tage vorher wunderschöne. Und dann ging's bergab.

Heute hab ich begriffen, was ich schon lange weiß, nämlich daß es so nicht weitergehen kann.

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Ein sehr trauriger Anblick. Die Oma steht im Gang an der nur angelehnten Küchentür, welche sich nach innen öffnet, mit der Hand an der Klinke und schafft es nicht, diese Tür zu öffnen, die doch nur leicht aufgedrückt werden müsste. Sehr hilflos schaut sie, und ich erinnere mich an mein erstes Begreifen, als sie ebenso hilflos das Messer in der Hand betrachtete, als hätte sie noch nie eins gesehen, geschweige denn benutzt.

Einige Monate ist das wohl nun her. Seit einigen Wochen hat sie Schwierigkeiten beim Abtrocknen der Hände. Nein, Oma, nicht das Waschbecken putzen. Die Hände abtrocknen. Und dann schaut sie wieder so. Kontinuierlicher Verlust der Fähigkeiten. Nun also das Öffnen einer angelehnten Tür.

"Oma, willst Du da rein?" - "Ja! Aber des geht net!"

Ihre Hand auf der Klinke, meine Hand auf der ihren, die leichte Bewegung zum Aufstoßen der Tür möchte ich vermitteln. Aber es geht net. Die offene Tür geht nicht auf. Wie sie mich anguckt, von schräg unten, sie ist ja so klein geworden. Ist das Triumphgefühl in ihrem Blick?

Nun, warum ging diese Tür nicht auf? Der Hausgeist muss mächtige Verstärkung bei sich gehabt haben: Dicht steht der Küchenstuhl an die Tür geschoben, seine Lehne verkeilt mit der Klinke. Wohlgemerkt, innen im Raum. Wir stehen außen.

"Oma, wie hast'n das gemacht?" - "Ich? Ich hab gar nix g'macht!" Grinsen.

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Sie liegt wach im Bett und mit ihrem süßestem Lächeln schaut sie mich an. "Och, noch a bisserle so schee dableiben" und kuschelt sich in die Decke.

Da wird das Frühstück natürlich verschoben.

Zwanzig Minuten später dann, Oma, die zehn Minuten sind aber nun rum!, Oh nein nein nein! schreit sie in gespieltem Entsetzen und zieht verschmitzt die Decke über den Kopf. Wenn der Tag so gut beginnt, dann sollte er auch gut weitergehen.

Was nötig wäre angesichts der vergangenen Tage, in denen sie mich Nerven gekostet hat, die ich schon lange nicht mehr habe, vielleicht auch noch nie hatte.

Nun, es war ein guter Tag. Die üblichen Mysterien. Heute ein verschwundenes Klo und ein dem Fuß entfleuchter Socken. Das Klo fand sich wundersamerweise im Badezimmer wieder und der Socken, sorgsam eingepackt, im Mülleimer. Wo auch sonst. Wie da der Socken bloß hinkommt? Das wenn man mal wüsste! Kopfschüttelndes Erstaunen, also sowas! Naja, der Hausgeist, wieder mal! So wird es sein.

Zum Glück kennen wir ihn und sein Treiben schon lange recht gut und wissen, wo es zu suchen gilt, meistens findet sich alles rasch wieder. Nur der obere Teil des Gebisses, den am Pfingstsonntag zu verstecken, das war ein böser Schabernack, die Zähne sind bis heute nicht aufgetaucht.

Es war ein guter Tag, weil die üblichen Mysterien nicht mit Tränen, Verzweiflung oder Zorn einhergingen, sondern mit heiterer Gelassenheit: es ist halt so, was will man machen.

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Wahrscheinlich ist meine Oma der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der sich, um das Gleichgewicht zu halten und um nicht hinzufallen, beim Niedersetzen auf die Toilette an seinen eigenen Füßen festhält.

Nicht immer, aber immer wieder.

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